Go East: Für eine progressive Europapolitik
Die Landesdelegiertenkonferenz der Jusos Sachsen-Anhalt möge beschließen:
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat nicht nur das soziale und wirtschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig verändert und damit unseren Alltag und die Wahrnehmung auf die internationale Politik gewandelt. Auch wir Jungsozialist*innen änderten nicht zuletzt unsere Haltung zu der Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete, die wir solidarisch im Kampf um Freiheit und Autonomie unterstützen.
Die mit dem Krieg verbundenen, massiven Folgen der „Zeitenwende“ lenkten den Blick zunächst auf unser Nachbarland Polen. Mittlerweile lenken wir unseren Blick nun verstärkt auf die Interessen und Wahrnehmungen, sowie den Chancen unserer Partner*innen in Mittel- und Osteuropa, sowie den Balkan. Unsere Verfehlungen in der vergangenen Russlandpolitik und die daraus folgenden Pflichten zur Aufarbeitung sollen sich daher insbesondere auf unsere Nachbarn im Osten konzentrieren, nicht nur unserer Solidarität und der Bereitschaft willen.
Erstmals wurde die Rolle Sachsen-Anhalts im Osten durch das Magdeburger Recht bestimmt. Rund 1.000 Städte wandten es an, darunter Breslau, Krakau, Vilnius, Buda und Kiew. Der westlichste Ort war Quedlinburg im Harz, der östlichste Charkiw in der Ukraine. Das Gesetz regelte die städtische Autonomie, die Unantastbarkeit von Leib und Leben, das Recht auf Besitz sowie die individuelle Freiheit der Bürger, die sich nun allesamt bedroht sehen
Mit einer Berücksichtigung unserer gemeinsamen Geschichte unter dem Einflussbereich der Sowjetunion und unserer Verantwortung als internationaler Verband möchten wir der jungsozialistischen Idee nachkommen, die Gesellschaft als diese zu formen und gegen die unkritischen Narrativen gegenüber Russlands in unseren ostdeutschen Bundesländer anzustehen, um diese letztendlich zu durchbrechen.
Trotz der gemeinsamen Geschichte unter dem undemokratischen Einflusses der Sowjetunion unterscheidet sich die Affinität gegenüber Russland sehr. Während es im Großteil der Staaten östlich der ehemaligen DDR große Ablehnung gegenüber Russland und dem russischen Regime gibt, finden wir in Ostdeutschland weiterhin eine hohe Zustimmung und wenig kritische Auseinandersetzung mit der russischen Entwicklung in den letzten Jahren.
In der Vergangenheithaben besonders wir als Deutschland von der wirtschaftlichen Kooperation ohne Anknüpfung an politische Forderungen profitiert. Die universelle Verfügbarkeit russischen Gases hat bei uns zu großen Standortvorteilen geführt, während wir damit die Voraussetzung für eine noch stärkere Bedrohungslage unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn geschaffen haben.
Wir Jusos sehen uns in der Verantwortung, diese Fehler aufzuzeigen. Nicht nur unsere Position in der Mitte von Europa, sondern auch unsere Geschichte eines geteilten Staates, verwurzelt sowohl im westlichen als auch im östlichen Teil des Kontinents, bieten uns die Möglichkeit ein Scharnier zwischen den Interessen der westeuropäischen und osteuropäischen Staaten zu sein. Wir sehen uns in der Pflicht zu erkennen, dass wir unsere Position vor Allem für westeuropäische Interessen genutzt und damit die Interessen und Lebenswahrheiten des Ostens in der Vergangenheit hinten angestellt haben.
Mit den Montagsdemonstrationen, direkt anschließend an die Covid-Proteste, sahen wir auch in Sachsen-Anhalt eine extreme Mobilisierung und eine klare Veränderung in der europapolitischen Debatte. Rechte Gruppierungen, darunter die AfD und die “Freien Sachsen”, bedienten sichklar von der russischen Regierung beinflussten Narrative, die Angst schürte und somit den Destabilisierungsbemühungen Moskaus zuarbeitete. Auch dieBemühungen des stellvertretenden AfD-Landesvorsitzenden Hans-Thomas Tillschneider, mit Unterstützung des AfD-Landespartei und der Landtagsfraktion, mithilfe einer einer russischen “Hilfsorganisation” im September 2022 in den russisch besetzten Teil der Ostukraine zu reisen, um unter dem Slogan “Ami go home” den Schulterschluss zwischen Deutschland und Russland zu propagieren, werden von uns nicht vergessen. Wir sehen eine Kooperation innerhalb der europäischen Rechten, die eindeutig versucht, unsere Demokratie mit einer nationalen und menschenverachtenden Agenda zu verdrängen.
Wir haben durch die in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt organisierten Großdemonstrationen gesehen, wie stark die Russland-Affinität gerade im Osten verankert ist. Während in Westdeutschland 63% die Unterstützung der Ukraine mit Waffen befürworten, sind es im Osten Deutschlands nur 40%.
Auch Forderungen, die Nord Stream 2-Pipeline zu reparieren und jegliche Propagierung russischer Erzählungen über die Verhandlungsbereitschaft Russlands lehnen wir ab. Das russische Regime zeigt immer wieder, dass es nicht bereit ist zu verhandeln und für die Erreichung ihrer Kriegsziele auch weiterhin bereit ist, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Ukraine zu begehen. Unsere Antwort darauf kann also nur klar sein: Wir unterstützen die Ukraine in ihrem Kampf um Souveränität und auf ihrem Weg in die Europäische Union. Dazu gehört für uns neben der kontinuierlichen finanziellen und humanitären Hilfe auch die Lieferung von Waffen.
Über den Krieg hinaus wird die Ukraine Hilfen brauchen, um ihr Land wieder aufzubauen. Darum müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Ukraine sich von diesem schrecklichen Krieg erholt und Teil unserer Europäischen Gemeinschaft werden kann. Notwendig dafür wird unter anderem ein Wiederaufbauprogramm sein. Auch Sachsen-Anhalt kann und sollte seinen Teil dazu beitragen – mit neuen Städtepartnerschaften, verstärktem Austausch und wirtschaftlicher Kooperation. Bei Hilfen zum Wiederaufbau und einer europäischen Integration der Ukraine gilt es jedoch zu beachten, dass diese auf Augenhöhe geschehen und keine einseitigen Vorteile für die Staatender Europäischen Union in den Vordergrund gestellt werden. In diesen Verhandlungen muss der Ukraine Handlungs- und Gestaltungsmacht zugesprochen werden.
Auch sicherheitspolitisch hat sich seit des Angriffs auf die Ukraine viel verändert. Für uns ist klar: Wir nehmen die Ängste und Sorgen unserer osteuropäischen Nachbarn ernst. Der plötzliche Überfall auf die Ukraine hat uns die schreckliche Wahrheit aufgezeigt, wie real diese Ängste sind. Während wir vor über einem Jahr noch dachten, ein Krieg inmitten von Europa sei nicht mehr möglich, sind wir im letzten Jahr Zeugen des Gegenteils geworden. Die Gefahr ist real. Das bedeutet auch, dass wir unseren Sicherheitsbegriff erweitern und die Sicherheitspolitik in Europa stärken müssen, jedoch nicht die nationale Aufrüstung aller Einzelstaaten. Wir stehen weiterhin zu der Forderung einer gemeinsamen europäischen Armee zugunsten nationaler Abrüstung. Nur so werden wir unsere zukünftige Sicherheit gut organisieren können. Es ist in einem solch engen Bündnis wie der Europäischen Union nicht sinnvoll, 27 Armeen zu haben, die alle alles können. Dafür müssen wir werben. Insbesondere in Osteuropa, auch aufgrund der vergangenen Erfahrungen, wird es schwierig. Hier werden wir viel Vertrauen wieder aufbauen müssen. Wir bekennen uns daher auch klar zur Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik (GSVP).
Um den europäischen Sinn zu stärken und gemeinsam gegen die drohenden Gefahren anzukommen, braucht es starke, grenzübergreifende Verbindungen und Lösungen, die es zu fördern bedarf. Ebenso heißt das unsere Grenzregionen zu stärken und ihnen die verbindende Wirkung zu geben und zuzugestehen, die uns und dem Europäischen Projekt letztendlich einen Vorteil verschafft. Konkreter gilt es politisch die Vereine und Organisationen zu unterstützen, die grenzübergreifende Begegnungen schaffen, Vorurteile und das damit verbundene Unbehagen abbauen. Auch den grenzübergreifenden “Euroregionen” an sich muss eine größere Relevanz und Bedeutung zugesprochen werden. Diese stellen eine gute Möglichkeit dar, grenzübergreifende Zentren aufzubauen, die sowohl territoriale als auch mentale Grenzen verschwinden lassen. Mecklenburg-Vorpommern hat mit dem Konzept des „demokratischen Ostseeraums“ bereits ein Konzept vorgelegt, was insbesondere für Mecklenburg-Vorpommern entscheidend wird, internationale Kooperation die nächsten Jahre weiter zu beschreiten und eine jungsozialistische Antwort auf die internationalen Herausforderungen der Zukunft zu geben. Dasselbe streben wir nun für den gesamten demokratischen Osten Europas an.
Zwischen nationalen Machtdemonstrationen und Zensur haben es progressive Bewegungen und Parteien in Osteuropa besonders schwer. Daher hat besonders konservative und teils rechte Politik Erfolg. Das zeigt sich auch in der Gesellschaft und teils an den Grenzen. Umso wichtiger ist es, die progressiven politischen Kräfte in den Ländern stärker zu vernetzen und zusammenzubringen. Das ist auch unsere Verantwortung als Netzwerkpartei. Dafür benötigt es mehr gemeinsame Foren und Austauschmöglichkeiten mit unseren Schwesterparteien im Osten, aber auch mit den Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir brauchen ein internationales Engagement gegen Anti-Europäer und einen Kampf für Antifaschismus und Antirassismus über unsere Grenzen hinaus.
Auch aus wirtschaftspolitischer Sicht eint uns und unsere Nachbarn vieles. Wir alle haben gemeinsam das System der Planwirtschaft erlebt. Wir mussten in den neunziger Jahren einen großen Strukturbruch und weitreichende Transformation überwinden. Und genauso werden wir alle gemeinsam die grüne Transformation des 21. Jahrhunderts meistern müssen. Die Gemeinsamkeiten und unsere Erfahrungen geben uns einerseits Kraft die Dinge zu lösen, andererseits auch Anreiz dies zusammen zu tun.
Die Herausforderungen werden groß. Da die Politik der vergangenen Jahre vor allem eine westeuropäische war, geriet der „Osten“ immer wieder absichtlich auf’s Abstellgleis. Das führt dazu, dass auch nach über 30 Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion und zunehmender Integration europäischer Staaten in die EU nach wie vor große strukturelle Benachteiligungen osteuropäischer Staaten vorliegen. So liegt weiterhin im östlichen Teil der Europäischen Union im Vergleich zu Westeuropa eine deutlich andere Wirtschaftsstruktur mit deutlich weniger Vermögen und Möglichkeiten, in Zukunftstechnologien zu investieren, vor. Gleiches gilt für staatliche Investitionen und Beihilfen. Umso wichtiger ist im gemeinsamen Interesse, dass es seitens der EU ausreichend Mittel zur Unterstützung der anstehenden Investitionen gibt. Programme wie der Just Transition Fund und Industrial Green Deal sind dafür gute Instrumente. Für eine wirklich schlagkräftige Europäische Union im industriepolitischen Bereich sind dafür allerdings auch weitere finanzielle Möglichkeiten notwendig. Daher fordern wir die Einrichtung europäischer Eigenmittel zur Bekämpfung der strukturellen Benachteiligung Osteuropas. Gute Transformation kann allerdings nur mit guter Arbeit gelingen. Mit dem Strukturwandel der neunziger Jahre hat sich auch die Arbeitsrealität in Ostdeutschland und Mitteleuropa geändert. Viele Firmen mussten schließen, viele Unternehmen mit Sitz in Westeuropa haben die Chancen genutzt. Osteuropa ist wie Ostdeutschland in Teilen zur verlängerten Werkbank des Westens geworden. Geringe Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen sind die Folge. Die Transformation ermöglicht uns auch, das zu ändern und einander künftig auf Augenhöhe zu begegnen. Wir streben schon lange nach einem Vorsprung Ost innerhalb Deutschlands. Diese brauchen wir auch in ganz Europa. Dafür ist neben Investitionen auch eine gute Arbeitsmarktpolitik innerhalb der Europäischen Union notwendig. Entscheidungen wie die Mindestlohnrichtlinie sind dafür der richtige Weg. Aber auch darüber hinaus benötigt es weiterhin Initiativen, beispielsweise für mehr Tarifbindung und Mitbestimmung, die gute Arbeit stärken.